Kreatives Schreiben

Und jetzt?

Und jetzt?

Armani sitzt im Dämmerlicht in seinem Sessel, dessen Farbe nach all den Jahren unergründlich geworden ist. Sein gedankenschwerer Blick lastet auf Chloé.
Seit dreißig Jahren zieht sie am Zugband der Rollade bis sich das Licht mit dem Dunkel vermischt, während Armani den tödlichen Rauch seiner Gauloise blau inhaliert. Das Band, speckig und zerfranst und brüchig wie ihre Ehe, droht zu zerreißen, wird von unsichtbaren Fäden zusammengehalten.
Diesmal ist Armani vorbereitet. Er trägt eine große Sonnenbrille. Aus den 70ern, ein Andenken von Mutter. Eins der wenigen Dinge, die sie vergessen hatte, als sie sich davonmachte. Chloé dreht sich zu Armani hin und stellt ihm schwarzen Filterkaffee, der wie immer etwas dünn geraten ist, auf den kleinen Tisch, der an seinem Sessel lehnt. Ihr Blick streift sein Gesicht und bleibt an den dunklen Gläsern hängen.
„Und? Wie findest du sie?“ Ein unaufhörliches Zucken hält seine Mundwinkel in Bewegung. Chloés Nacken wird bretthart. Dann hat er die Briefe, rauscht es Chloé in den Sinn.
„Wo hast du die denn gefunden?“ Ihre Stimme flackert.
„In deinem Sekretär neben Mutters Briefen.“ Armani brummt wie ein alter Elch, der sicherstellen will, dass ihm bloß niemand zu nahekommt.
Chloé läuft es kalt den Rücken hinunter und tropft in die Schuhe. Hätte sie doch besser das ganze Zeug da gelassen, wo sie es schon seit Jahren versteckte.
„Dann wird es ab jetzt schwierig.“ Chloé will Zeit gewinnen. Ihre Gedanken kreisen.
„Wieso?“ Armani fällt wie immer auf Chloés Ablenkungsmanöver rein. Nervös ruckelt er an der Sonnenbrille.
„Ab jetzt hast du nichts mehr zu meckern, weil es dir zu hell ist, wenn ich die Rolläden hochziehe. Und ich habe nicht mehr das letzte Wort.“
Armani ist jetzt mehr als irritiert. Ist das ein Friedensangebot? Nach all den Jahren …
„Na und?“ Mehr will Armani nicht dazu sagen und presst die Lippen aufeinander.
„Siehst du, geht schon los.“
Chloés feuchte Hände hinterlassen Spuren auf dem Glastisch. Sie sitzt jetzt seitlich zu ihm auf der Couch, die schon dastand, als sie vor über dreißig Jahren ihren Buko* dorthin geworfen hatte, der außer zwei Kondomen, Taschentüchern und ein leeres Portemonnaie, nichts beinhaltete und den Einzug in ein neues Leben mit Armani und Mutter bedeutete.
„Manche Dinge ändern sich nicht!“
„Gerade hat sich etwas geändert.“
Ein alter Gaul könnte nicht besser schnauben als Armani jetzt.
Chloé schnieft. Armanis Gesichtsausdruck versteinert. Jetzt jammert sie wieder, warum sie das ganze Theater mit mir hier schon so lange mitmacht. Und, was sie da draußen in der Welt alles verpasst hat. Und, warum sie nicht gleich gemerkt hat, wie aussichtslos es ist, zu versuchen aus ihm, den alten Esel, ein Rennpferd zu machen. Und, dass sie seinetwegen ihre unglaubliche Karriere an den Nagel gehängt hat. Und, dass ihr Manager sie nur nicht erreichen kann, weil das Telefon einfach nicht repariert wird.
Armani überlegt, ob er einfach das Atmen einstellen und für immer in seinem Sessel versinken soll. Dann würde er klammheimlich seine Hülle verlassen, vom Sessel gleiten und die nächste Bodenritze würde ihn vom Holz schlürfen.
Und dann?
„Na, träumste wieder?“, nadelt Chloé spitz in Armanis Rauchgeschwader.
„Und wenn?“
Chloé zieht den Kopf zwischen die Schultern, als müsse sie ihren Hals retten.
„Warum liegen Mutters Briefe und ihre Sonnenbrille in deinem Sekretär, Chloé? Du hast mich im Glauben gelassen, dass Mutter nichts mehr von mir wissen will. Ich habe sie jahrelang gesucht. Und hier steht auf jedem Briefumschlag ihre Adresse. Chloé!“
„Ich habe sie im Schubkasten hinter dem Ofen aufbewahrt. Du solltest sie endlich kriegen.“ Chloés Ausweichmanöver schürt Armanis Unzufriedenheit und Wut keimt auf.
„Warum erst jetzt? Es ist dein Pech und mein Glück, dass ich sie gefunden habe. Jedes Jahr, ein Brief. Immer zu meinem Geburtstag. Nur dieses Jahr nicht. Sie ist tot!“ Armanis Stimme hat eine andere Färbung als sonst. Ihr fehlt das Geflirre, bevor es in ihrer Unterhaltung unweigerlich zum täglichen Eklat kommt.
Der ruhige und bestimmte Ton erinnert Chloé an die letzte Frage des Henkers am Schafott. Sie schiebt das Grauen von sich und aalt sich in ihren alltäglichen Gedanken der verpassten Möglichkeiten, um ihrer Unzufriedenheit den gewohnten Raum zu geben.
Das Klingeln des Telefons trifft Chloé wie ein Giftpfeil mitten ins Herz.
„Willst du nicht drangehen, Chloé. Es könnte Edgar sein.“ Armanis Front löst sich aus der Versteinerung und sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln eines Schachspielers, der mit dem nächsten Zug die Dame zu Fall bringt.
„Aber, das Telefon funktioniert doch nicht.“ Chloés Fassungslosigkeit amüsiert Armani noch mehr.
„Nee, da liegst du völlig falsch, meine Liebe. Es hat nie jemand angerufen, Chloé.“
„Und. Und jetzt?“ Chloés Gedankentürme stürzen in sich zusammen. Die Worte treffen sie unmittelbar und der Schmerz um den Verlust ihres Lebens ist kaum auszuhalten. Kein Wink, der die Realität erträglicher macht. Kein Staubkorn an dem Chloé Halt finden könnte. Sie hebt den Kopf aus den Gedankentrümmern, als der Telefonterror aufhört.
„Sie ist meinetwegen gegangen.“ Chloés Stimme bebt. Diese verdammten Briefe, denkt sie. „Sie mochte mich nicht. Darum ist sie weg.“ Chloé klammert sich an ihre Glaubenssätze. Ihr Atem wird etwas ruhiger und sie kann wieder Kraft schöpfen.
„Weißt du, sie liebte dich wie ich.“ Armanis Stimme füllt den Raum mit dem Rest seiner rotflackernden Wärme. „Und das war wunderbar. Und schade, dass du das nicht fühlen konntest, mein Schatz.“
Chloé krümmt sich vor Schmerz. Seine Worte filetieren ihre Seele. Sie wirft ihren Kopf herum und starrt in Armanis Gesicht, in den düsteren Winkel des Wohnzimmers, den die Sonne verlassen hat.
Chloé übersieht das Aufblitzen der Metallklinge in Armanis Hand. Armani übersieht die Verlorenheit in ihren Tränen, die das eingebrannte Gefühl, ein falsches Leben gelebt zu haben, nicht aus ihrem Herzen waschen können.
Chloé sinkt in Armanis Arme. Eng umschlungen gleiten beide aus dem Sessel hinunter der Bodenritze entgegen.
Und? Still. Und Einatmen und Ausatmen und …?

*Buko: Bumsübernachtungskoffer, umgangssprachlich

Dieser Text ist entstanden zum Schreibimpuls „Und“ und ich habe den Text in der Lesung im Werkstatttheater am 21.06.2024 in der Kölner Südstadt präsentiert.
Copyright Claudia Satory, Autorenforum Köln