Kreatives Schreiben

Wissen macht Mut?!

Wissen macht Mut?!

Dämon wollte nie Dämon sein.

Bis heute nicht. Er existiert in seinem Schatten, der sein finsteres Dasein nicht nur widerspiegelt, sondern verkörpert. Tief in seiner Existenz spürt er eine ungestillte Sehnsucht, ein Flackern, eine Ahnung von etwas, das fehlt.

Es liegt eine Gewissheit darin, keine bloße Vorstellung, sondern eine Leere, die er auch in jeder von Schmarotzern bewohnten Ritze seines Wesens spürt. Er ist Teil eines Systems, eines feingesponnenen Gewebes, das seine raue Erscheinung unmerklich in der Spur hält. Doch in Wahrheit sind es Ketten, unsichtbar, die ihn festhalten, kalt und unnachgiebig.
Doch davon ahnt er nichts.

„Ich bin unvollständig“, schießt es ihm durch den Kopf.
Als diese Wahrheit mit der Wucht einer Abrissbirne seine Herzmauer trifft, wird er schrecklich wütend und sein Körper bebt.

„Was fehlt mir? Was brauche ich, um ein Ganzes zu werden?“
„Mach dich auf den Weg und finde es heraus“, hallt es durch die dunklen Gänge seines Reiches. Wer spricht oder habe ich das gesagt?
„Ja, das bin ich. Außer mir ist niemand hier unten. Und ja, ich werde aufbrechen, in die Welt.
Ins – Licht!?“

In Dämons Stimme schwingt schon Angst und seine Pranken zittern.
Dankbarkeit für seinen Mut quillt aus den Poren seines Panzers und die Entschlossenheit treibt ihn sofort zum Aufbruch.
Als er die Erdoberfläche erreicht, erschlägt ihn fast die unbekannte Vielfalt, die über ihn hereinbricht.

„Warum bläst der Wind, warum scheint die Sonne und warum atme ich? Das brauchte ich bisher nicht. Warum weiß ich all das? Was ist das Gute, was ist das Böse? Warum denke ich plötzlich zweifarbig?“
Dämons Gedanken sprudeln.

Dämons Fragen beantworten sich in Teilen wie von selbst oder werfen neue auf:
Menschen kämpfen in Rüstungen, andere Menschen befrieden und lächeln. Wie passt das denn zusammen?
Dämon zieht noch rechtzeitig den Kopf zwischen die Schultern, als ihm auf dem Schlachtfeld plötzlich Geschosse um die Ohren pfeifen. Jetzt lächelt niemand mehr und Chaos bricht aus. Dämon zieht sich rasch in seinen Schatten zurück. Er legt die Stirn in Falten, als die, die anfangs noch lächelten, nun über die in den Rüstungen herfallen.

Dämon schüttelt den Kopf und zieht weiter. Das Rätsel von Gut und Böse scheint unlösbar.
Dann trifft er auf Moral. Dämon starrt gebannt auf ihr scharlachrotes Kleid. Wie eine zweite Haut spannt es sich um ihren getunten Körper mit Einblick bis zum Bauchnabel hinab. Moral lächelt siegessicher.
„Alles klar, du gehörst zu den Guten“, säuselt Dämon erleichtert und glaubt sich am Ziel seiner Wünsche. Moral imponiert Dämon auch mit ihren scharfkantigen Knien, die bei jedem Schritt unter dem Saum ihrer Robe hervorstechen. Und als sie alles, was sich ihr in den Weg stellt, zur Seite kickt und mundtot macht, fühlt er sich wie vor den Kopf geschlagen und ernsthafte Zweifel treiben ihn um.

„Puuh! Das soll gut sein?“ Er springt voran und lässt Moral bald hinter sich, um ihr nicht auch noch zum Opfer zu fallen.

Dämon überschattet sein eigenes Spiegelbild, um unsichtbar und unbehelligt seine Reise fortzusetzen. Wieder nähert er sich Menschen und diesmal erfährt er von ihren Sorgen und Nöten. Aber auch von schönen Dingen. Dämon beobachtet einmal, wie sie gemeinsam essen und lachen.
Dämon ist neugierig. Was ist Lachen? Essen hat für ihn keine Bedeutung. Irgendwie sinnlos. Aber Lachen?
Wenn es da ist, ziehen sie ihre Münder auf, zeigen ihre Zähne und donnern los. Und wenn einer lacht, lachen plötzlich ganz viele. Ihre Bäuche wackeln, und ihre Körper biegen sich in alle Richtungen.
„Wie herrlich und so wunderbar laut“, findet Dämon und möchte das Lachen besitzen.
Wo kann er es finden? Im Schein der Sonne sucht er das Lachen. Es ist nirgendwo zu sehen. Was hat es an? Wo wohnt es?

Den ganzen Tag irrt er durch Straßen und Häuser und beobachtet Menschen, die sehr geschäftig mit ernsten Gesichtern arbeiten. Das kommt Dämon sehr bekannt vor. Schließlich hat er bis heute nicht gewusst, was Lachen ist. Er fühlt sich heimisch, aber das erste Mal spürt er, wie unangenehm sich das anfühlt. Ist ihm früher nie aufgefallen, dass Sorgen und Nöte so sehr belasten können. Das reicht für heute, denkt Dämon und kehrt stolz zurück, dass er sich hinausgewagt und so viel erlebt hat.

Zurück in seinem dunklen Reich, tief unter den Wurzeln der Erde, denkt er in seiner gewohnten Einsamkeit über seine neuen Erfahrungen nach.
———————
Plötzlich bemerkt Dämon eine Veränderung: Die Temperatur in seiner Umgebung steigt. Es ist verboten, die Finsternis zu verlassen – eine Regel, die er gebrochen hat. Misstrauisch, fast ängstlich lauert er hinter der letzten Biegung vor dem schwarzen Tor, vor der Grenze seines Reiches und wartet.

Liebe hat sich auf den Weg gemacht. Als Liebe vom Besuch der Finsternis auf der Erde erfährt, fühlt sie sich sofort von der schwarzen Gegend magisch angezogen.
Die Nachricht über Liebes Vorhaben verbreitet sich wie ein Flächenbrand und nackte Angst geht um. Noch niemand hat vor ihr diese Reise angetreten.

Voller Zuversicht entzündet Liebe ihre Kerze, deren Schein ihr den Weg leuchtet und wagt sich in Dämons Dunkel.
Ihre nackten Füße betreten den von schwarzem Pech überzogenen Boden bis zur Wendeltreppe ohne Geländer, die, die zum Urgrund hinabführt.
Dann schleiert sie über die verätzten Stufen und vermeidet den Bodenkontakt, wo es geht.

Dämon erstarrt. Liebes Anwesenheit berührt ihn und erschüttert ihn zugleich, bis tief in die Knochen hinein.
• Noch – nie, hat sich ein Wesen in sein Territorium gewagt!
Fremd, warm und betörend wabert es in seine Höhle hinein, schon in dem Augenblick, als Liebe in sein Reich eintaucht. Ein Gefühl, dass Dämon in Alarm versetzt.
Und das schon lange, bevor er ihr gegenübersteht.

Dämon tritt der Schweiß auf die lederne Stirn, als sie seinen Höhleneingang erreicht. Sein verhärteter Nacken schmerzt. Er spürt ihre flirrende Energie, wie sie seinen felsigen Körper umfängt.
„Vorwärts“, denkt Dämon und tritt mutig aus seinem Versteck.

Liebe hat alles getan, um sich auf diesen Moment vorzubereiten. Hat alle möglichen Szenarien und Bilder durchgespielt, hat versucht, sich vorzustellen, was ihr in der Tiefe des Schattens begegnen könnte.

Liebes Kerze erlischt. Sie stolpert und greift ins Leere.

Gebannt folgen seine Augen den sanften Bewegungen ihrer Erscheinung. Sie ist so zart und doch liegt eine unerschütterliche Kraft in ihrem Wesen.
Dämon springt ihr entgegen und versucht sie noch rechtzeitig aufzufangen, doch beide stürzen.

„Wer bist du?“, will er wissen. Sie wendet ihm ihr Gesicht zu.
„Ich bin Liebe. Ich suche das Dunkle, um es zu erhellen.“

Für den Bruchteil eines Augenblicks zeigt Dämon sein Antlitz und will es schnell wieder verbergen. Doch Liebe streichelt mit ihren Augen über sein Gesicht und der Moment dehnt sich solange, bis sie ineinander versinken.

„Warum rettest du mich?“, flüstert sie in sein Ohr und legt ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich weiß es nicht“, stöhnt er und windet sich.

Dämons Körper brennt. Seine Eingeweide schmoren, die Metallbeschläge glühen und sein schwerer Panzer schmilzt. Seine Dunkelheit schwindet und schafft Platz für Neues. Liebe schlingt sich unmerklich um Dämon. Sie hält ihn und doch hält sie ihn nicht. Sie streichelt seine Seele und doch berührt sie nicht seinen geschundenen Körper.

„Es tut so weh!“, klagt er. „Was passiert mit mir?“
„Du wirst frei“, erklingt ihre Stimme.

Stille kehrt ein. Dämon blinzelt.
Urplötzliche Helligkeit blendet ihn. Liebe lässt ihre Sonne für ihn scheinen.
Sie legt ihre Hände auf seine Wangen und küsst sein Herz. Die letzte Kette zerspringt und seine finstere Fratze hellt sich auf.

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Unsicher zuerst, dann wird es breiter, gewinnt an Stärke.

Und dann – dann lacht Dämon!
So ein tiefes, kraftvolles Lachen bricht aus seinem abgründigen Inneren hervor.

Es füllt seine Lungen, durchdringt seine Eingeweide und erreicht sein Herz

– sein Herz, das in diesem Moment zu schlagen beginnt …!

0 Kommentare zu “Wissen macht Mut?!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert