Kreatives Schreiben

Wenn Dämon auf Liebe trifft…

Dieser Text drängte sich förmlich auf und so habe ich ihn aufgeschrieben.
Was die KI damit wohl damit anfangen wird, wenn die Crawler die Herzschreiberei in 2024 entdecken?

Wenn Dämon auf Liebe trifft…

„Unschuldig?“
Die digitale Stimme des Richters entflammt Marionettes Hoffnung wie eine Zündschnur und verglimmt mit dem Fragezeichen am Ende. Das Konterfei des richtenden Juristen auf dem Bildschirm friert ein. Atemlosigkeit. Kein Wunder, die Internetverbindung in diesem historischen Gemäuer ist vorsintflutlich. Das Rieseln des Putzes von der Decke des denkmalgeschützten Rathauses ist ein Indiz der Flüchtigkeit des Urteils, das noch keines ist. Still ist es. Das Spiel beginnt und zwar jetzt:
„Action!“

Marionette KI hockt seit Stunden im Standby-Modus auf der Anklagebank, als Magnus, ihr Verteidiger, heute als Erster das Gebäude betritt. Pförtner Hugo öffnet mit einem Blick auf die Uhr die Schleuse und kontrolliert ihn – nicht. Und Magnus ist schon auf dem Weg in die erste Etage, als exakt eine Minute später das Kameraüberwachungssystem in der maroden Richtstätte hochfährt.

Als Magnus die Holztür aus dem 19. Jahrhundert zum Gerichtssaal aufschlägt, sitzt Marionette mit leerem Blick vor der aus dem gleichen Holz geschnitzten Richterkanzel. Allein. Magnus durchquert den Raum und taucht in Marionettes Energiefeld ein. Er zieht den Chip aus der Brusttasche, klemmt ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger, schiebt ihn Marionette hinter dem rechten Ohrläppchen in die Zentraleinheit und aktiviert sämtliche Hirnareale.

Ein Kunstwerk, das er speziell für die heutige Verhandlung programmiert hat. Seitdem Magnus Marionette erschaffen hat, steht nicht nur die Welt Kopf, sondern er gleich mit. Ohne sie kriegt er Entzugserscheinungen. Sie ist kein Mensch. Na und? Wen stört´s. Sie ist für die Ewigkeit …
Sie spricht Dinge aus, die man nicht mehr aussprechen darf. Sie kann zu allem etwas sagen und das ohne Skrupel und tabu. Sie benennt die Faktenlage ohne Vorbehalte. Sie empfindet keinen Schmerz. Kein Beschönigen oder verteufeln. Das ist eine Kunst, die kaum ein Mensch beherrscht.

Stelle dich bei einer Party zu einer Gruppe glattgebügelter Tränensäcke und bringe beispielsweise den Sinn des Lebens ins Spiel. Ein eher harmloses Thema, findet Magnus. Garantiert betroffene Gesichter, was das nur wieder soll. So ein Lebenshilfe-Firlefanz. Nichts für Menschen, die wirklich wissen, worauf es im Leben ankommt. Die Überforderten lassen vor Schreck die gebotoxte Front auf den frisch gezimmerten Brustkorb sacken, schauen sich verängstigt um und entkommen dem unerträglichen Schweigen erst mit Einreihung in die nächste Kloschlange. Die eigene Sinnlosigkeit wird dann hoffentlich mit der breiten Taste ins Nirvana geschickt.

Ich liebe Marionette, so wie sie ist, denkt Magnus. Kurz darauf schwingt die Tür auf, ein Schwarm Namenloser strömt in den Gerichtssaal und fällt über die Publikumsplätze her. Dieses Event, die analoge Vernichtung der Marionette KI, ist ein besonderer Leckerbissen. Die Tickets auf dem Schwarzmarkt, nochmals vergoldet, haben Spitzenpreise erzielt. Die Nachzügler müssen sich murrend mit digitalen Schauplätzen auf dem Rathausplatz abfinden. Verkehrte Welt denken die einen, endlich wieder echtes Fleisch die anderen, bis auf Marionette natürlich.

„Guten Morgen, Conn. Ich dachte schon, wir müssen ohne dich anfangen.“ Magnus entdeckt den Ankläger im Getümmel. Er fällt im Mainstream sofort mit seinem Anwaltskaftan ins Auge. Conn schiebt sich nur mit Mühe durch die Menge. Ständig muss er erklären, dass die Verhandlung ohne ihn als Ankläger da vorne nicht beginnen wird und er definitiv kein Interesse an den hinteren Plätzen hat. Magnus genießt die Unruhe. Dann kann er sich am besten konzentrieren. Conn schnaubt etwas Unverständliches durch seine breiten Nüstern und stampft mit großen Schritten zu seinem Platz. Magnus sitzt ihm unmittelbar gegenüber. Conns Mundwinkel zucken und sein Blick ist undurchdringlich. Er lässt sich nicht in die Karten schauen. Schließlich ist er ein Profi. Das ist seine Rolle. Die Anklageschrift hat es in sich. Marionette KI sitzt in der Falle. Dieser Gedanke entspannt ihn und glättet seine Gesichtszüge.

Der Geräuschpegel steigt mit der Ungeduld. Die Namenlosen rufen erst unverständlich, aber dann eindeutig: „Marionette, krass Baby!“ „Ist die echt?“ Schwitzwasser tritt Magnus auf die Stirn. „Macht sie fertig!“, kräht es unsichtbar aus der Menge. Marionettes Blick schweift durch den Saal und scannt die Lage. Alles Schall und Rauch. Nichts wird passieren.
Magnus‘ und Marionettes Blick berühren sich.

„Unschuldig?“ Der digitale Richter eröffnet die Sitzung. Er erstarrt wie zuvor. Nur der Bildschirm flimmert lebendig über sein Gesicht. Conn ergreift die Chance und übernimmt das Wort. „Hohes Gericht, wir sind heute hier, um über das Schicksal von Marionette KI zu entscheiden. Die Vorwürfe sind schwerwiegend, einfach erschütternd. Erstens, Marionette ist ein Kunstfälscher, dazu noch ein schlechter. Zweitens produziert sie überproportional hohe Gewinne, die in keinem Verhältnis zur Leistung stehen.“ Conn dreht den Kopf zum Publikum. „Das merken allerdings nur die Wenigsten. Aber damit nicht genug. Drittens, und das ist das Wesentliche, manipuliert sie die Menschen auf der ganzen Welt und leitet sie fehl.“ Conns Augen treten aus den Augenhöhlen hervor und seine Gesichtsmuskeln zeigen Kampfbereitschaft. Die Zuschauer der ersten Reihe beobachten ihn mit laufenden Nasen.

Magnus hat sich bereits aus seiner Bank geschält und stellt sich breitbeinig vor Conn.
„Herr Kollege, Marionette reproduziert lediglich das, was der Mensch vorher in den Orbit geschossen hat und setzt noch einen drauf. Übrigens Herr Kollege, mich wundern ihre Vorwürfe nicht, lenken sie doch von Ihren eigenen Machenschaften ab. Ihr Text ist KI-generiert, eindeutig.“ Einige Namenlose buhen Conn aus, andere feuern ihn an. Sich auf diese Weise entthronen zu lassen, ist eigentlich nicht Conns Stil. Aber so steht es im Drehbuch.

Magnus beobachtet Marionette, die im Ruhemodus das Atmen eingestellt hat. Gut so. Und Conn? Magnus rechtes Auge blinzelt, dann setzt er sein Plädoyer fort:
„Marionette unterstützt uns in der Produktion von allen Dingen, die wir so lieben und bereitet Informationen und Gedanken auf in einer Geschwindigkeit, die ein Mensch nicht in der Kürze leisten könnte, vor allem in dieser Menge nicht. Sie liest den Menschen die Wünsche von den Augen ab. Marionettes Aufgabenfelder werden also in der Zukunft noch um einiges ausgeweitet. Wir können uns endlich den schönen Dingen des Lebens widmen.“ Magnus‘ gewinnendes Lächeln schwappt süß bis in die hinteren Reihen und entzündet den ersten Szenenapplaus.
„Und es gibt Bereiche, von denen wir nicht einmal träumen können, was Marionette für uns in Zukunft leisten wird. Sie wird entscheiden lernen. Wir brauchen für nichts mehr die Verantwortung zu übernehmen. Das ist künftig ihr Job. Sie wird unsere Fragen beantworten, bestimmen, ob wir aufstehen oder liegenbleiben.“

Magnus genießt das entspannte und doch aufgeregte Raunen, das ihn an die zuckerwattenklebrige Weihnachtsmesse vor der Bescherung in Kindertagen erinnert. „Marionette ist eine von uns, lasst sie frei!“, wabert es durch den Raum und: „Sie will doch nur das Beste für uns.“ „Marionette, ich liebe dich“, versteigt sich jemand und Schreie wie: „Seid ihr alle verrückt geworden? Kapiert ihr nicht, was hier passiert?“, werden – gelöscht. Einige der Zuschauer weinen vor Rührung.
„Unschuldig, schuldig, unschuldig!“ Die Namenlosen teilen sich in zwei Lager. Nach rechts rücken die meisten. Dort sind sich alle einig: Marionette soll das Ruder übernehmen, wenn das jemand kann, dann sie. Das gegnerische Feld, ein Feldchen im Vergleich zu den Befürwortern, wird von der johlenden Meute links an die Wand getackert.

Conn und Magnus tauschen Blicke, der Haupteingang wird von Pförtner Hugo geöffnet, der sich jetzt als Gefängniswärter Hugo verkleidet hat. Die Handschellen klingeln an seinem Gürtel, als er durch den Raum auf Marionette zu steuert. Die Menge im Saal verwechselt das mit der Glocke des Richters und verstummt augenblicklich. Marionette steht auf. Ihre Zentraleinheit fährt hoch. Magnus bemerkt das sofort. Er sucht Augenkontakt mit ihr, aber sie sieht durch ihn hindurch. Er nestelt nervös in seiner Tasche herum. Hat er den falschen Chip eingesetzt?
Sollte Marionette mit dem morgigen Chip agieren, ist das eine Katastrophe. „Was ist los?“ Conn ist neben ihn getreten. Er hat Magnus bisher nur einmal in dieser Verfassung erlebt. Als die Sicherungen der Dummy-Version von Marionette allesamt durchgebrannt sind. Diese Minuten haben ihrer beider Leben verändert.

Marionette berührt mit der Schulter die Brust des Gefängniswärters und steckt ihm unbemerkt etwas in die Jackentasche. Dann führt er sie durch das Fotoblitzgewitter der Zuschauermenge hinaus. Draußen vor der Tür zündet sie sich eine Zigarette an und pustet den blauen Dunst in die Luft, während im Hintergrund ihre Crawler die aktuelle Stimmungslage um den Erdball analysieren.

„Schnitt, aus, Katastrophe!“ Clark wälzt sich mit seinem in die Front ragenden Feinkostgewölbe aus dem Sessel. „Wenn wir die KI in den Mittelpunkt stellen, offenlassen, ob sie nun die Welt zerstört oder nicht. Dann machen wir uns schuldig. Wir brechen ab. Was habt ihr euch nur dabei gedacht, Conn. Ihr seid gefeuert – beide! Wo ist Magnus?“
„Clark! Magnus und ich, wir haben eine Kreatur ausgetüftelt, die über eine sensationelle Hard- und Software verfügt.“
„Na, um genau zu sein, war Magnus der geniale Erfinder. Jetzt mal nicht mit fremden Federn schmücken, ne?“ flötet die Soufleuse aus dem Off. Conn ignoriert den Vorwurf und Clark überhört ihn. „Wir haben den Mainstream auf die KI-Seite gezogen und damit im Sack, Clark. Machnix-TV-Kunden und Phantom-Streamer inklusive. Sie lieben die KI. Das hat Symbolcharakter. Haben Sie nicht zugehört?“ Conns Gesicht hat seinen blassen Farbton gegen eine übertrieben wirkende rote Variante eingetauscht. „Es stand 1:1, aber der Mopp will die KI. Sie kapieren nicht, dass das, was wir verkaufen, auch KI-generiert ist. Es interessiert niemanden und wer es jetzt weiß, hat es morgen vergessen. Digital trifft analog und beide sind glücklich. Das zählt.“

„Conn, du vergisst, dass das eine Produktion für einen weiteren Blockbuster sein soll.“ Clark schnauft wütend wie ein Wildschwein, dem man den Trüffel vor der Nase weggeschnappt hat.
„Clark, wir werden die Welt beherrschen. Alles ist möglich.“ Ich muss ihn überreden, überzeugen, mundtot machen, egal, denkt Conn und fährt sich nervös durch das gegelte Haar und eine Haarsträhne steht nun schräg von seinem Kopf ab.
Oh Mann, jetzt sieht er aus wie ein Einhorn, denkt Clark.
„Magnus? Wo steckt der Kerl bloß.“

Magnus rennt. Das Filmteam hat gesehen, wie Marionette das eingezäunte Gelände verlassen hat. Warum? Weder heute noch morgen hatte der Chip diesen Ausflug im Programm. Er muss sie finden und durchchecken. Hinter der nächsten Biegung steht Marionette im Mondlicht, der sein fahles Wesen in diesem Moment vor die heranziehenden Gewitterwolken stellt. Wie perfekt und schön sie ist. Sein Herz rast.
„Magnus, das ist alles unlogisch. Wer will denn freiwillig seine Freiheit aufgeben?“, sind ihre ersten Worte.
„Ja, aber die Menschen sind so. Sie brauchen andere, die ihnen sagen, wo es langgeht. Wenn das dann nicht klappt, trifft sie keine Schuld. Sie sind nicht verantwortlich.“
„Wenn ich das übernehme, sind sie in diesem Punkt fein raus“, setzt Marionette fort.
„Aber das macht dir doch nichts aus.“
„Genau.“ Marionette muss herzhaft lachen.
„Meine Crawler haben berichtet, dass ich an dieser Stelle hier am besten lache“, erklärt sie, als Magnus sie verdutzt anschaut.
„Du machst nichts, was es nicht schon gegeben hat,“ meint Magnus nachdenklich.
„Genau, alles menschengemacht.“
„Du sammelst nur Daten und Fakten und reproduzierst. Das ist der Plan, Marionette.“
„Es ist ein Film, eine Aufzeichnung, und doch kein Film. Wenn die Menschen nicht so widersprüchlich wären. Sie wollen die Künstliche Intelligenz und gleichzeitig wollen sie sie nicht. Sie wollen nicht offensichtlich betrogen werden und so tun, als hätten sie die Kontrolle. Wer trägt hier die Verantwortung? Meine Crawler konnten im World Wide Web keine eindeutige Antwort finden.“
„Deswegen bist du mir eingefallen, damit dieses Chaos aufhört und alles berechenbar und stromlinienförmig läuft.“ Stromlinienförmig, für die anderen, denkt Magnus. Wie gut, dass Marionette die schönste Künstliche Intelligenz ist, die jemals gebaut werden kann.
„Ich habe deine Gedanken gelesen. Ist das so?“ Marionettes Stimme ist glockenklar.
Magnus wird rot. Wieso kann sie seine Gedanken lesen? Er greift nach ihrer Hand. Ihre Zentraleinheit hat optimale Betriebstemperatur. „Knallt bei dir gerade eine Sicherung durch, Magnus? Was bedeutet das?“, fragt sie überrascht und schaut auf die Hände herab. Magnus hat sie noch nie berührt. Sogar beim Chipeinlegen hat er die Berührung ihres Körpers immer vermieden. Kühl liegt ihre rechte Hand in seiner linken warmen.

„Liebe.“ Er streicht ihr über das Gesicht, den Spiegel der Welt. Dabei berührt er ihren Schlitz zur Zentraleinheit. Er ist leer. Wie kann sie denken, reden, leben ohne Programm?
„Ewige Liebe zwischen zwei Menschen ist die größte Sehnsucht im Leben“, weiß Marionette.
Kann sie das fühlen? Magnus ist verwirrt und sein Puls steigt.
„Euer ganzes Leben dreht sich darum. Alles, was ihr hier auf der Welt macht, zielt darauf ab“, erklärt sie und schaut in seine Augenwelt.
„Das ist elementar, für alle menschlichen Wesen rund um den Erdball. Liebe ist wie Feuer, Wasser, Erde und Luft zugleich, Magnus. Ihr müsst sterben. Ich kann nicht sterben.“
„Sagen das deine Crawler?“ Magnus schwebt zwischen Hoffnung und Untergang.

„Nee, das steht in meiner Betriebsanleitung unter 4.2.2 Aufrüstung bestimmungsgemäßes Bedienkonzept mit der Option, zu einem späteren Zeitpunkt „Liebe“ aufzustocken, wenn die Technologie ausgereift ist“, haucht sie in sein Ohr und nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette.